In der Traditionellen Chinesischen Veterinärmedizin (TCVM) nimmt die Lunge eine ganz besondere Stellung ein. Sie wird als " Empfindliches Organ" bezeichnet und gilt als das am höchsten gelegene Organ im Körper. Bildlich ist sie ein Schutzschild, das die anderen Organe beschützt und ihnen Unterschlupf bietet. Diese Beschreibung deutet bereits auf die zentrale und schützende Funktion der Lunge im Organismus hin.
Die vielfältigen Funktionen der Lunge in der TCVM
Doch was macht die Lunge in der TCVM so besonders? Um dies zu verstehen, müssen wir uns von unserem westlichen Verständnis der Lunge als reines Atmungsorgan lösen und einen ganzheitlicheren Blick einnehmen. In der TCVM ist die Lunge weit mehr als nur für den Gasaustausch zuständig - sie spielt eine Schlüsselrolle für das gesamte energetische System des Körpers.
Kontrolle des Qi-Zyklus
Eine der wichtigsten Aufgaben der Lunge in der TCVM ist die Kontrolle des Zyklus der Qi-Zirkulation. Das Qi, oft als "Lebensenergie" übersetzt, durchströmt nach chinesischer Vorstellung den gesamten Körper und ist für alle Lebensfunktionen essentiell. Die Lunge gilt als "Herrscher des Qi" und reguliert dessen Verteilung und Bewegung im Körper.
Vermittlung zwischen Innen und Außen
Als am höchsten gelegenes Organ fungiert die Lunge als Vermittler zwischen dem Organismus und seiner Umwelt. Sie nimmt das "reine Qi" aus der Luft auf und gibt verbrauchtes Qi wieder ab. Dadurch ermöglicht sie einen ständigen Austausch zwischen Innen- und Außenwelt und hält das System in Balance.
Verteilung des Wei Qi
Eine besonders wichtige Funktion der Lunge ist die Verteilung des Wei Qi (Abwehr-Qi). Dieses schützende Qi zirkuliert an der Körperoberfläche und in den äußeren Schichten der Organe. Es stärkt die Abwehrkraft des Körpers gegen äußere pathogene Faktoren wie Wind, Kälte oder Feuchtigkeit. Ein starkes Lungen-Qi bedeutet daher auch eine starke Immunabwehr.
Regulation der Körpertemperatur
Die Lunge spielt eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung einer gleichmäßigen Körpertemperatur. Dies hängt eng mit ihrer Funktion zusammen, die Körperoberfläche zu kontrollieren und das Wei Qi zu verteilen.
Kontrolle der Körperflüssigkeiten
In der TCVM wird der Lunge auch eine wichtige Funktion bei der Regulation der Körperflüssigkeiten zugeschrieben. Sie kontrolliert die "Wasserwege" im Körper, verteilt Flüssigkeiten und sorgt für einen ausgewogenen Feuchtigkeitshaushalt in Haut und Schleimhäuten.
Öffnung in der Nase
Die Lunge "öffnet sich in der Nase", wie es in der TCVM heißt. Das bedeutet, dass die Funktion der Nase und der Geruchssinn direkt mit dem Zustand der Lunge zusammenhängen. Eine gesunde Lunge ermöglicht freies Atmen und einen guten Geruchssinn.
Die Lunge und ihre Verbindungen zu anderen Organsystemen
Die Lunge-Dickdarm-Verbindung
In der TCVM steht die Lunge in enger Verbindung mit dem Dickdarm. Beide gehören zum Metall-Element und beeinflussen sich gegenseitig. Ein gesundes Lungen-Qi unterstützt die Ausscheidungsfunktion des Dickdarms, während Probleme im Dickdarm die Lungenfunktion beeinträchtigen können.
Die Lunge-Nieren-Achse
Die Beziehung zwischen Lunge und Nieren ist in der TCVM von großer Bedeutung. Die Lunge sendet das Qi nach unten, während die Nieren es empfangen und festhalten. Diese Zusammenarbeit ist essentiell für einen harmonischen Qi-Fluss im gesamten Körper.
Emotionale Aspekte der Lunge
In der TCVM werden jedem Organ auch emotionale Aspekte zugeordnet. Die Lunge wird mit der Emotion Trauer in Verbindung gebracht. Sie gilt als ein besonders sensibles, verletzliches Organ, das stark auf emotionale Belastungen reagiert. Chronischer Kummer, unverarbeitete Trennungen oder Verlusterfahrungen können die Lungenfunktion nachhaltig schwächen.
Der Lungen-Typ in der TCVM
Die TCVM kennt verschiedene Konstitutionstypen, die mit den Organsystemen in Verbindung stehen. Der Lungen-Typ zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus:
- Ausgeglichen und arbeitswillig
- Behält stets den Überblick
- Aufmerksam und zuverlässig
- Vorsichtig gegenüber Neuem
- liebt Routinen
- Selbstsicher, aber unauffällig
- Athletischer Körperbau mit wenig Muskulatur
- Wirkt eher etwas distanziert und unemotional
Tiere mit einem ausgeprägten Lungen-Typ neigen jedoch auch zu bestimmten Schwächen:
- Anfälligkeit für Überforderung
- Neigung zu Haut- und Lungenproblemen
- Trockene Atemwegsschleimhäute (anfällig für Infekte oder Allergien)
- Tendenz zu trockener, schuppiger Haut
- Dürftiges Winterfell
- Erkrankungen der Schulter und des Rückens
- Vorhandlastigkeit
- Neigung zu Verstopfungen, trockenem Kot, Kolik, Durchfall oder Kotwasser
- Emotionale Belastung durch Trauer und Kummer
Pathologien der Lunge in der TCVM
Wenn die Lunge aus dem Gleichgewicht gerät, kann dies zu verschiedenen Krankheitsbildern führen. Einige der häufigsten Lungen-Pathologien in der TCVM sind:
Lungen-Qi-Mangel
Ein Mangel an Lungen-Qi kann sich durch folgende Symptome äußern:
- Kurzatmigkeit, besonders bei Anstrengung
- Leise, schwache Stimme
- Chronischer Husten ohne viel Auswurf
- Spontanes Schwitzen
- Häufige Erkältungen und schwaches Immunsystem
Lungen-Yin-Mangel
Bei einem Mangel des Lungen-Yin treten oft folgende Symptome auf:
- Trockener Husten, besonders nachts
- Trockener Hals und Mund
- Heiserkeit
- Nachtschweiß
Invasion von Wind-Kälte in die Lunge
Dies ist ein häufiges Muster bei akuten Erkältungen:
- Husten mit klarem, dünnflüssigem Auswurf
- Niesen und laufende Nase
- Leichtes Fieber mit Frösteln
- Körperschmerzen
Schleim-Feuchtigkeits-Ansammlung in der Lunge
Dieses Muster zeigt sich durch:
- Husten mit reichlich zähem Auswurf
- Engegefühl in der Brust
- Atemnot, besonders im Liegen
- Rasselnde Atemgeräusche
Der Verlauf des Lungenmeridians
Der Lungenmeridian beginnt im oberen Brustbereich nahe der Schulter (Lu 1) und verläuft über die Innenseite des Vorderbeins bis zum Kronrand/ zur Zehe (Lu 11). Entlang dieses Meridians befinden sich elf Akupunkturpunkte, die gezielt zur Behandlung von Disharmonien eingesetzt werden können.
Die wichtigsten Akupunkturpunkte des Lungenmeridians
- Lu 1 (Zongfu) – "Zentrale Residenz": Er stimuliert das Absenken des Lungen Qi, öffnet die Brust und hilft bei Husten sowie Atemnot.
- Lu 2 (Yunmen) – "Tor der Wolken": Direkt oberhalb von Lu 1 gelegen, unterstützt dieser Punkt ebenfalls die Regulierung des Lungen-Qi und wird bei Schulter- und Brustschmerzen sowie Atemproblemen verwendet.
- Lu 3 (Tianfu) – "Himmelspalast": Dieser Punkt befindet sich auf der Innenseite des Vorderbeins und wird bei emotionalen Problemen wie Trauer oder Depressionen eingesetzt. Er kann auch Symptome wie Nasenbluten oder Husten lindern.
- Lu 5 (Chize) – "Teich am Fuß": Dieser Punkt klärt Hitze aus der Lunge und wird häufig bei akuten Atemwegserkrankungen wie akuter Bronchitis und Infekten der Atemwege verwendet.
- Lu 6 (Kongzui) – "Die Tiefe des Lochs": Dieser Punkt wird bei akuten Beschwerden wie Husten mit Blutbeimengung oder starken Schmerzen entlang des Meridians eingesetzt.
- Lu 7 (Lieque) – "Gebrochene Reihenfolge": Einer der wichtigsten Punkte für die Behandlung von Erkältungen, Kopfschmerzen und emotionalen Blockaden. Er öffnet den Meridian im Kopfbereich und stärkt das Abwehr-Qi.
- Lu 8 (Jingqu) – "Graben des Kanals": Dieser Punkt harmonisiert das Qi und wird bei Atemproblemen sowie Schmerzen entlang des Meridians verwendet.
- Lu 9 (Taiyuan) – "Tiefer Abgrund": Als Quellpunkt des Meridians stärkt Lu 9 grundlegend die Funktion der Lunge. Er wird häufig bei chronischen Atemwegserkrankungen sowie zur allgemeinen Stärkung des Qi eingesetzt.
- Lu 10 (Yuji) – "Territorium der Fische": Dieser Punkt klärt Hitze aus der Lunge und wird oft bei Halsschmerzen oder fieberhaften Erkrankungen verwendet.
- Lu 11 (Shaoshang) – "Kleine Metallnote": Er dient zur Befreiung akuter Blockaden und wird häufig bei Halsschmerzen oder Fieber eingesetzt.
Behandlung von Disharmonien im Funktionskreis Lunge
Die Behandlung von Störungen im Funktionskreis der Lunge umfasst verschiedene Ansätze aus der TCVM. Akupunktur entlang des Lungenmeridians ist eine zentrale Methode, um Blockaden zu lösen, das Qi zu harmonisieren und den Körper zu stärken.
Ergänzend dazu können Massagen angewandt werden, um die Durchblutung zu fördern und Spannungen zu lösen.
Besonders wichtig ist auch die emotionale Unterstützung des Tieres. Trauer oder Kummer sollten erkannt und bearbeitet werden, um eine nachhaltige Heilung zu ermöglichen.
Die Lunge in der westlichen Veterinärmedizin im Vergleich zur TCVM
Während die westliche Veterinärmedizin die Lunge primär als Organ des Gasaustauschs betrachtet, geht die TCVM, wie wir gesehen haben, von einem viel umfassenderen Funktionsspektrum aus. Dennoch gibt es interessante Überschneidungen und Parallelen:
- Die Bedeutung der Lunge für das Immunsystem wird in beiden Systemen anerkannt, wenn auch auf unterschiedliche Weise erklärt.
- Die enge Verbindung zwischen Lunge und Haut (in der TCVM über die Kontrolle der "Körperoberfläche") findet sich auch in der westlichen Medizin, z.B. bei allergischen Erkrankungen, die oft sowohl die Atemwege als auch die Haut betreffen.
- Die Rolle der Lunge bei der Regulation von Körperflüssigkeiten hat Parallelen zur Funktion der Lunge im Säure-Base-Haushalt in der westlichen Physiologie.
Fazit: Die Lunge als Schlüssel zur Gesundheit
Die Betrachtung der Lunge in der TCVM zeigt eindrucksvoll, wie umfassend und ganzheitlich dieses Medizinsystem den Organismus versteht. Die Lunge ist hier weit mehr als nur ein Atmungsorgan - sie ist ein zentraler Knotenpunkt im energetischen System des Körpers, ein Vermittler zwischen Innen und Außen, ein Regulator von Qi und Körperflüssigkeiten und nicht zuletzt ein Spiegel des emotionalen Zustands. Für Tierbesitzer, die sich mit der TCVM beschäftigen, eröffnet dieses Verständnis neue Perspektiven in der Diagnostik und Therapie. Es ermöglicht einen ganzheitlichen Blick auf die Gesundheit des Tieres und bietet vielfältige Ansatzpunkte für präventive und therapeutische Maßnahmen.
Die Integration von TCVM-Konzepten in die veterinärmedizinische Praxis kann zu einem tieferen Verständnis von Krankheitsprozessen führen und neue Wege in der Behandlung eröffnen. Dabei geht es nicht darum, die westliche Veterinärmedizin zu ersetzen, sondern sie sinnvoll zu ergänzen.
Letztendlich lehrt uns die TCVM-Sicht auf die Lunge auch etwas Grundsätzliches über Gesundheit: Sie ist das Ergebnis eines harmonischen Zusammenspiels aller Körperfunktionen, der Balance zwischen Innen und Außen, zwischen Aufnahme und Abgabe.
Die Lunge spielt in diesem fein abgestimmten System eine zentrale Rolle - als Hüter des Qi, als Schutzschild gegen äußere Einflüsse und als Spiegel unserer inneren Balance.
Eure Jessi von JessICan-natürlich!